MuP: Wie kann Bürger_innenbeteiligung/-engagement gerade auch in sozial benachteiligten Stadtteilen, in denen sich bisher wenig Menschen engagieren, ermöglicht werden? Was braucht es dafür?
Fehren: In von Armut geprägten Milieus haben Menschen häufig keinen Anlass, sich bürgerschaftlich zu engagieren: Im Vordergrund stehen häufig existenziellere Fragen: „Wie komme ich über die nächsten Tage? Wie gelange ich ohne Auto mit zwei Kindern und einem Kinderwagen zum Jobcenter, zum Kindergarten und zum Wohnungseigentümer, um mich über die feuchte Wand im Kinderzimmer zu beschweren?“ Für die Ermöglichung von bürgergetragenen Aktivitäten in benachteiligten Sozialräumen ist es daher von besonderer Bedeutung, dass Engagement für die Engagierten einen spürbaren Gebrauchswert hat. Das bedeutet: Die prioritären Themen vor Ort herausfinden und bearbeitbar machen. Diese reichen z.B. vom Ärger über die überhöhten Nebenkostenabrechnungen des Vermieters, dem gemeinsamen Leiden unter Kriminalität oder Vermüllung, der Stigmatisierung des Viertels, Erfahrungen der Schikanierung durch Behörden bis hin zum Interesse an günstigen Gartenflächen, dem Wunsch nach Geselligkeit oder einer Verbesserung der Versorgung mit Kinderarztpraxen oder Kitaplätzen.
Die Befähigung zu gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Handeln entlang sich überlappender Einzelinteressen ist dabei von besonderer Bedeutung, weil durchsetzungsschwache Bevölkerungsgruppen nur über den Zuwachs von kollektiver Macht eine signifikante Rolle in der zivilgesellschaftlichen Arena spielen können. Entgegen gängiger Praxen der Engagementförderung geht es somit ausdrücklich nicht um die Aktivierung des Einzelnen oder um ein individuelles Empowerment. Vielmehr liegt der Kern der sozialräumlichen Bürgergesellschaft weniger in Selbsthilfe, sondern in Selbstorganisation!
Lokale Engagementförderung braucht eine dauerfinanzierte, personengestützte Infrastruktur, die die von mir eben beschriebenen Formen der Aktivierung von Menschen und Institutionen stetig fördert und dabei insbesondere die Interessen benachteiligter Bevölkerungsgruppen in den Vordergrund rückt. Eine große Verführung für die Politik ist es, Programme für Engagementförderung je nach aktueller Lage für bestimmte Zielgruppen aufzulegen – für die Hospiz-Arbeit, für die Arbeit mit Geflüchteten, etc. Was man aber braucht, sind regelhaft geförderte Strukturen der Engagementförderung im Sozialraum, die unabhängig von Zielgruppenkonjunkturen immer wieder einen guten Boden, einen Humus dafür schafften, dass zivilgesellschaftliche Aktivitäten im
Quartier gedeihen können.
MuP: Welche Stolpersteine gibt es, wenn Engagement in Sozialräumen gedacht wird?
Fehren: Bürgerschaftliches Engagement ist enorm vielfältig und heterogen, es reicht vom klassischen Engagement im Verein bis zur Einmischung in Prozesse der Stadtentwicklung, vom Ehrenamt als Schöff_in bis zur freiwilligen Mitarbeit in der Flüchtlingshilfe. D.h. Engagement umfasst sowohl die klassische Freiwilligenarbeit im Bereich Hilfe, Pflege, Jugendarbeit aber auch auf Mitsprache abzielende Bewegungen und Kampagnen z.B. zu Fragen des Umweltschutzes oder der Bürgerrechte. Auch wenn sicherlich der quantitativ größere Teil des Bürgerschaftlichen Engagements im Bereich einer eher konsensorientierten Freiwilligentätigkeit verortet werden kann, so darf man die Bedeutung eines eher konfliktorientierten Engagements in Form von alternativen Projekten und Initiativen nicht unterschätzen. Und hier scheint mir ein große Gefahr in Programmatiken zu liegen, die auf lokale Nahräume abstellen. Gemeinwesenbezogene und bürgeraktivierende Strategien stehen latent immer in der Gefahr zu erfolgen anstelle einer gesellschaftlichen Verantwortung für die Minderung von Leid. Mit der Ideologie einer nahräumlich
organisierten harmonischen Bürgergesellschaft wird suggeriert, dass die Bürger_innen selbst (am besten noch konfliktfrei) die Probleme lösen könnten, für die sich ein zurückziehender Sozialstaat zunehmend weniger verantwortlich fühlt. Aber erst wenn sich Menschen nicht mehr um ihre eigene Existenz sorgen müssen, werden Ressourcen frei für ein darüber hinausgehendes Engagement.
Bei den derzeitigen gesellschaftlichen Deformationen nur nach den vermeintlichen Keimzellen der Gesellschaft – der Familie und den Nachbarschaften – zu rufen, erscheint mir als hoffnungsloser Ausweg. Daher bedarf es einer Ausrichtung von sozialräumlicher Engagementförderung, die gegen eine übertriebene Stadtteilfixierung imprägniert ist, die vorm Hineintappen in die Aktivierungsfalle schützt: Bewohner_innen sind nicht für die Strukturdefizite eines Quartiers verantwortlich! Die Verantwortung für Lösungen der lokal besonders sichtbar werdenden Probleme darf nicht den jeweiligen Quartieren und ihren Bewohner_innen zugewiesen werden. Engagementförderung kann und soll im lokalen Nahraum anfangen, aber dann (je nach Thema) die überlokale Ebene (Kommune, Bundesland) einbeziehen. Im Lokalen beginnen, aber nicht im Lokalen steckenbleiben!
MuP: Was empfehlen Sie Non-Profit-Organisationen, die lokal arbeiten und Engagement vor Ort fördern wollen?
Fehren: Die ins Auge gefassten Sozialräume sollten nicht zu klein und zu homogen geschnitten werden, da zu kleingewählte Gebiete zu zwei Nachteilen führen können:
- Zum einen lassen sie sich viel einfacher als sozialer Brennpunkt aus dem gesamtstädtischen Kontext herauslösen. Gerade bei marginalisierten Quartieren ist es aber enorm wichtig, die Handlungsansätze über das als problematisch definierte Gebiet hinaus auszudehnen und nicht ausschließlich einen ‚Arme-Leute-Ansatz’ zu verfolgen. Es ist kontraproduktiv, solche Gebiete zu ‚sozialpolitischen Sonderproblemen’ zu machen, daher spricht viel für einen räumlich großzügigeren Zuschnitt der Gebiete, der die angrenzenden Quartiere integriert.
- Zum anderen erfasst man mit einem zu kleinräumig geschnittenen Sozialraum weniger Integrationskräfte und Lösungspotenziale. Daher sollte der Sozialraum eine kritische Mindestgröße haben, die die Gebietsverflechtungen von z.B. Schulen oder Versorgungseinrichtungen stärker berücksichtigt.